2. April 2013

[Mio] Himmelskind

Manchmal, wenn ich die Augen schließe, seh ich dich noch auf der Treppe sitzen.
Dabei ist es so lange her.
Da sitzt du mit dem Kopf auf den Knien, die Arme um die Beine geschlungen.
Und ich sehe dich, von ganz unten, zwischen all den Leuten, so vielen Leuten, sehe ich dich.
Und alles andere verschwimmt.
Die ganze Woche hast du dein Spiel gespielt, du hast dieses coole Mädchen gespielt, von dem alle denken, das wärst wirklich du. Du hast alle überragt. Ja, jeder mochte dich und du hast alle um den Finger gewickelt. Du hast deine dummen Witze gemacht und so viel gelacht. Und jeder nahm es dir ab, weil keiner dein echtes Lachen kennt. Außer mir.
Niemand weiß, wer du wirklich bist, nur ich, ich weiß es.
Und nun sitzt du da und alles ist von dir abgefallen. Die Fassade ist gebröckelt und übrig bist du, ein kleines verlorenes Mädchen auf einer großen Party.
Und niemand darf dir zu nahe kommen. Nicht deine Fans und dein Date und deine Freunde nicht, du willst niemanden sehen, mit niemandem reden.
Die ganze Woche hab ich dich in Ruhe gelassen, hab Abstand genommen, ich hätte dich bei deiner perfekten Inszenierung nur gestört. Deine Abweisungen tun mir nicht mehr weh, ich weiß, sie gehören zu deinem Spiel.
Aber jetzt, wo du du bist, wo du klein bist, wo du echt bist, kann ich nicht gehen. Kann ich meinen Blick nicht von dir abwenden, aus Angst du könntest jede Sekunde in tausend Teile zerspringen.
Nein keiner darf dir nahe kommen, keiner, außer mir.
Und ich setze mich neben dich und du legst deinen Kopf in meinen Schoß und weinst.
Du sagst, ich bin der einzige Mensch, dem du je vertrauen konntest und du tust es noch.
Du legst deine zerbrochene Seele für ein paar Augenblicke in meine Hände.
Und ich halte dich fest. Ich halte dich fest und weine mit dir, weil ich deinen Schmerz in jeder Faser meines Körpers spüre.
Nein, wir brauchen keine Worte, wir wissen, was wir uns bedeuten.
Damals, in einer anderen Zeit, an einem perfekten Sommertag, hast du gesagt, du wünschtest, du wärst als mein Kind geboren worden.
Und das ist es, was ich für dich empfinde.
Ich sehe das Kind in dir. Ein hilfloses, zerstörtes Kind.
Ich wünschte, ich hätte dich beschützen können.
Ich wünschte, ich wäre immer da gewesen.
Aber es ist zu spät.
Und darum bin ich jetzt da und werde es immer sein.
Und immer wenn du weinst, werde ich alles stehn und liegen lassen und dich trösten.
Sobald wir von der Treppe aufstehen und zurück zur Party gehen, wirst du deine Maske wieder aufsetzen. Du wirst mich lachend wegschubsen und den anderen erzählen, ich hätte dich aufgehalten.
Du wirst leugnen, was passiert ist und was du sagtest ins Lächerliche ziehen.
Und ich werde lächeln und es so meinen und hoffen, dass du zurechtkommst.
Und von irgendwo werde ich immer über dich wachen.
Himmelskind.